1. April 2020

Schubladendenken ...

© by Gerhard Gellinger
Ich denke, heute weiß keiner mehr, wann es angefangen hat; noch ahnen die meisten, wo es hinführen wird und jene, die es glauben zu wissen, haben keinen Plan, wie sie es beenden können. Aber wir müssen es zumindest verändern, wenn nicht sogar aus unserer Gesellschaft eliminieren, wenn wir ein besseres Miteinander erreichen wollen.
Denn Schubladendenken trennt uns, kategorisiert uns, ohne uns wirklich in der Gesamtheit gerecht zu werden. Wir grenzen aus, entfernen uns immer mehr von einem Miteinander und wenden viel zu viel Energie auf, um uns gegenseitig fertig zu machen. 
Ja, ich bin mir bewusst, dass jetzt bereits einige behaupten werden, dies sei typisch menschlich; doch ist dem tatsächlich so?
… im Lehrplan der Schule 
In den letzten Tagen habe ich mir immer wieder Gedanken darüber gemacht, wann und wo dieses Schubladendenken begonnen haben könnte und dabei fiel mir auf, dass wir bereits in der Schule darauf geeicht wurden. Nein, weniger im Deutschunterricht, auch wenn dort immer mehr Schubladen gelehrt werden, sondern viel mehr im Geschichtsunterricht. Genau dort können wir sogar sehen, wieso das Schubladendenken eingeführt wurde, das nun unser Leben beherrscht.
Die Logik erzählt uns, dass die Geschichte stets ein Werdegang ist, wo ein Ereignis chronologisch nach dem anderen passiert und dabei auf den vorherigen aufbaut; kurzum, sie hängen nicht nur zusammen, sondern gehören auch zusammen. Dennoch lehrt uns der Lehrplan die Ereignisse einzeln und oftmals sogar aus ihrem Zusammenhang gerissen. 
Wir teilen die Geschichte in Epochen auf, trennen die Epochen dann sogar noch nach Orten. Und als die Epochenschublade nicht mehr machbar war, trennten wir die Ereignisse und gaben viel kürzeren Zeitrahmen einen Namen. Auf diese Art lassen sich gewissen Zusammenhänge hervorragend verschleiern. 
Ein Beispiel? 
Von der Industriellen Revolution gehen wir über ins Deutsche Kaiserreich, dann folgt die Weimarer Republik, gefolgt vom Dritten Reich und der jetzigen Neuzeit. Dass das Deutsche Kaiserreich, die Weimarer Republik und das Dritte Reich in einander übergeht, sogar tatsächlich zusammenhängen, wird durch den Zeitpunkt, wann dieses gelehrt wird noch zusätzlich verschleiert. Der Geschichtsunterricht ist in Schubladen unterteilt, die so gelehrt werden, dass der Schüler die tatsächlichen Zusammenhänge nicht sofort erkennt. 
Warum tun sie das? Welchen Sinn hat diese Form des Lehrens? 
Nun, ich habe da meine Ideen, meine Vermutungen, die zwar mittlerweile auf Fakten aufbauen, aber noch weit von ihrer Beweisbarkeit entfernt sind. Ich denke, auf diese Art werden gewisse Ereignisse und Wegbereiter im Nebel der Geschichtsschreibung versteckt, sodass wir nicht mehr nur Fakten erlernen, sondern auch die gewünschte Interpretation der Ereignisse. Aber wie gesagt, die Fakten sprechen zwar recht deutlich dafür, dennoch lässt sich dies nicht beweisen und ist somit mit Vorsicht zu genießen. 
Wenn wir uns einmal einem anderen Fach zuwenden, dann fällt uns auf, dass etwas im Geschichtsunterricht nicht ganz rund läuft. Denn in Mathematik beginnen wir mit der einfachen Zahlenlehre und bauen chronologisch immer weiter auf ihr auf. 
Unabhängig vom Lehrplan hat das heutige Schulsystem noch ein weiteres Schubladensystem, denn wo wir in den ersten vier Jahren noch alle Schüler in einer gemeinsamen Schule zusammenziehen, der sogenannten Grundschule, kategorisieren wir danach alle Kinder und teilen sie auf verschiedene Schulformen auf. Wo es zu meiner Zeit noch nur die Hauptschule, Realschule und das Gymnasium gab, wurde obendrein noch eine Gesamtschule entwickelt. Mittlerweile kommt noch die Ganztagesschule, die Gemeinschaftsschule hinzu (auch wenn dazu die Hauptschulen und Realschulen beinahe vollständig eliminiert wurden). 
Der Schlüssel, nachdem die Kinder den einzelnen Schulformen zugeordnet werden, ist nicht nur anhand ihrer Leistung und Lernbereitschaft aufgeteilt, sondern durchaus auch nach Elternwunsch und persönlicher Meinung der Grundschulklassenlehrer. Ein Schlüssel bei dem manche Kinder schon sehr früh durchs Rost fallen. Was aber durchaus auch der Sinn solcher Selektionen ist. Die Guten, die Brauchbaren sollen weiterkommen, die Unbrauchbaren, die Schlechten sollen ausgesiebt werden. 
Fair? Zukunftsfördernd für eine Gemeinschaft? Meines Erachtens wohl kaum. Aber hierzu sollte jeder sich seine eigenen Gedanken machen.
… in der menschlichen Natur 
Mittlerweile werden wir in jedem Lebensbereich in Schubladen gesteckt; sei es bei unserer Sexualität oder unserer Ernährung - nur um einmal zwei Beispiele zu nennen. 
Und gerade diese beiden Beispiele haben es heutzutage sogar in sich:
Früher hieß es noch, der Mensch ist ein Allesfresser. Nun, das war früher. Jetzt müssen wir uns auch hier in Fleischesser, Vegetarier und Veganer unterteilen. Und alle drei Schubladen behaupten, die jeweils einzig richtige, die Beste, die Gesündeste Ernährungsform zu sein. Ich bin mir sicher, dass es früher bereits Veganer und Vegetarier gab, die kein Fleisch, keine tierischen Produkte essen mochten und keiner hatte ein Problem damit, dies zu tolerieren. 
Aber mit den neugeschaffenen Schubladen wurde die Toleranz abgeschafft. Grabenkämpfe rund um unsere Ernährung nehmen deutlich zu und mittlerweile greift sogar die Politik ein, und versucht hier weitere Gräben zu erschaffen, denn bislang ist dies das einzige Ergebnis ihres Tuns. 
Und die Ernährungskommode erhält immer mehr Schubladen, denn auch die Fleischesser werden immer weiter nach der Tierart, die sie essen oder eben nicht essen, sortiert. Ja, es gibt in jeder Religion Veganer und Vegetarier, was aber gerne ignoriert wird, denn viel wichtiger ist uns, dass sie bestimmte Tierarten nicht essen dürfen, also auf jeden Fall in die diesbezügliche Schublade gehören. 
Auch im zweiten Beispiel, unserer Sexualität, werden die notwendigen Schubladen immer mehr, nach denen wir beurteilt werden. 
Heute reicht es nicht mehr aus, sich zwischen Heterosexuell oder Homosexuell zu entscheiden, sondern wir müssen uns dazu noch Gedanken darüber machen, ob wir nicht vielleicht sogar Pan, Bi oder transsexuell sind. Obendrein wurde jetzt sogar ein drittes Geschlecht eingeführt, welches nicht näher definiert wurde. Nun sind wir Menschen entweder Mann, Frau oder Divers. Und diese Einteilung ist deutlich wichtiger als unser Mensch sein. 
Aber selbst Mensch sein wird dazu sogar nach Religion, nach Nationalität, nach Hautfarbe, Geschlechtsmerkmal, Geschlechtsgröße usw. getrennt. 
Wir werden immer mehr in immer kleinere Gruppen aufgeteilt, was den Graben, die Kluft zwischen ihnen immer mehr vergrößert. 
Wo soll dies noch hinführen? 
… in der Literaturszene 
Seit nunmehr acht Jahren bewege ich mich in der deutschen, sowie in der englischsprachigen Literaturszene und bin durchaus enttäuscht von ihr und den endlosen Grabenkämpfen, die nicht nur zwischen den einzelnen Schubladen, sondern immer mehr auch in eben diesen stattfinden. Dabei ziehen wir alle am gleichen Strang, werben wir alle um die Gunst unserer Leser und versuchen so viele Menschen wie möglich mit unseren Geschichten zu unterhalten. 
Doch die Schubladen vermehren sich unaufhaltsam, beinahe jährlich kommen neue hinzu. Nicht mehr nur, dass wir Autoren anhand des Genres, in welchem sie schreiben, einteilen; jetzt kommt auch noch die Art ihrer Veröffentlichung hinzu. Und jeder behauptet, dass sein Weg, sein Genre das ultimativ Beste ist. 
Für jedes Genre gibt es mittlerweile zahlreiche Untergruppen, die an Wichtigkeit zunehmen. Dazu kommt die Aufteilung nach literarischem Anspruch, also ob der Stil eher altmodisch oder modern/ umgangssprachlich ist. Und als würde dies nicht reichen, muss nun auch noch alles nach Veröffentlichungsform sortiert werden. Aber auch da gibt es mehr als zwei Schubladen. 
Wir müssen uns hier zwischen Verlagsveröffentlichung und Selfpublishing entscheiden, dazu kommt dann noch die Gruppe jener Autoren, die bei sogenannten Druck-Kosten-Zuschuss Verlagen veröffentlichen und die sogenannten Hybrid-Autoren, die mindestens zwei dieser vorgenannten Wege bestreiten. 
Bis jetzt haben wir alles bereits nach literarischem Anspruch, Genre, Untergenre und Veröffentlichungsweg geordnet. Und doch fehlt immer noch eine letzte Sortierung: wollen wir unser Werk als elektronischen Buch, oder Taschenbuch, oder Hardcover Buch an den Leser bringen?
Bisher habe ich den tatsächlichen Nutzen dieser einzelnen Schubladen noch nicht rausgefunden, denn im Großen und Ganzen sind sie der Auslöser für die vielen Grabenkämpfe, die Verunglimpfungen und die im Prinzip sogar Entmündigung des Lesers, der anscheinend nicht mehr selber entscheiden kann oder darf, was er gerne lesen möchte. 
Die Leser haben sich heutzutage bitteschön zwischen den Genres und Untergruppen und Formaten zu entscheiden; dabei sollten sie dann auch auf jeden Fall bei ihrer Entscheidung bleiben, und ja nicht auf die Idee kommen, in fremden Schubladen zu wildern. Außer - natürlich - wir Autoren haben es erfolgreich geschafft, ihn in unsere Schublade zu ziehen. 
Zu Zeiten von Goethe, Hesse, Schiller, Storm usw gab es diese Unterteilungen noch nicht. Damals waren alle Autoren nur Autoren, dabei störte es niemanden, was dieser Autor am Ende schrieb, ebenso wenig interessierte es jemanden, wenn diese Autoren in mehreren Genres schrieben, denn am Ende taten sie alle ja das Gleiche: sie unterhielten ihre Leser. 
Auch der Neid und die Grabenkämpfe untereinander waren kaum vorhanden. Nicht alle Autoren waren miteinander befreundet oder sich zugetan; dennoch hielten sich die Kämpfe in Grenzen. Sie diskutierten angeregt über Literatur, die Schreibkunst als solches ohne dabei ihr Gegenüber zu beleidigen oder als lebensunwürdig zu degradieren. Viele Brieffreundschaften zwischen eben jenen großen Autoren belegen dies. 
Heute können wir kaum weiter davon entfernt sein; und als wäre dies nicht schon bescheuert, schlimm genug; beginnen wir immer mehr auch den Leser in diese Kämpfe miteinzubeziehen. 
… erfordert ein gesellschaftliches Umdenken 
Wie viel friedlicher wäre unsere Welt, unsere Gesellschaft, wenn wir wieder zurück zu den ursprünglichen Schubladen kehren? Wenn wir uns weniger abgrenzen, weniger in Gruppen aufteilen und mehr das Anderssein einfach tolerieren, ohne dem einen Namen zu geben? Anstatt nach Dingen zu suchen, die uns trennen, sollten wir viel eher nach Gemeinsamkeiten suchen und diesen viel mehr Raum in unserem Leben einräumen. 
Das Schubladendenken führt ausschließlich nur zur Ausgrenzung, Unzufriedenheit und somit am Ende zu sinnlosen, unnötigen Kämpfen um die Vorherrschaft der menschlichen Rasse. Dieses Gruppendenken beraubt uns um unsere wertvolle Lebensenergie, die wir sehr wohl zum Wohle einer Gemeinschaft einbringen könnten. 
Wieso ist es heutzutage so wichtig, welcher Religion, welcher Sexualität, welches Geschlecht wir haben? Warum ist es wichtig, welches Genre und Untergenre wir lesen, schreiben? Wieso ist es wichtig, wo wir unsere Bücher veröffentlichen, verkaufen, kaufen? 
Am Ende wollen wir doch das Gleiche: Wir wollen ein glückliches Leben, welches uns Satt und voller Liebe durch die Gezeiten des Universums führt. 

Sowohl als Individuum, aber auch als Gesellschaft, sollten wir wieder anfangen umzudenken und die zahlreichen Gräben zuschütten und uns auf unsere Gemeinsamkeiten berufen, um ein glückliches, friedliches Miteinander zu erschaffen. 

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