19. Februar 2020

Die Geisterschule von Neuhof


„Schule ist jenes Exil, in dem der Erwachsene das Kind solange hält, bis es imstande ist, in der Erwachsenenwelt zu leben, ohne zu stören.“
(Dr. Maria Montessori)

Mehr durch Zufall bin ich auf die ehemalige Schule vom Neuhof gestoßen, als ich nach den Schauplätzen für meinen Thriller ‚Der Befreiungsakt‘ suchte. Auch diese Geschichte gehört zu jenen, die ich in den Neunzigern schrieb; damals noch auf meiner Schreibmaschine und wie ich es gewohnt war, erfand ich sogar die Schauplätze an denen sie spielte.
Bei einem meiner Streifzüge durch die Mängelexemplar-Ständer der Ahrensburger Buchhandlungen stieß ich auf das Taschenbuchartige Thriller Magazin aus dem Rowohlt-Verlag. Und in diesem Buch befanden sich zwei Geschichten von Dakota Lane, die mich begeisterten. Eine dieser Geschichten war ‚Bobby got a gun‘ die mich dazu animierte, es ihr nachzutun und ‚Der Befreiungsakt: Jimmy Got A Gun‘ zu schreiben.
Schon bevor ich das Buch kaufte und las, hatte ich mir Gedanken über mein Schreiben gemacht und in mir reifte der Wunsch, mich aus dem Stephen Kingschen Horrorgeschäft zu verabschieden. Daher nahm ich diese Idee dankend an und setzte sie innerhalb eines Wochenendes um. Damals konnte ich meine Kurzgeschichten noch in wenigen Stunden tippen.
Neben mir waren auch meine Testleser von dieser neuen Geschichte begeistert. Und doch, irgendwie hatte ich dabei immer noch das Gefühl, ihr fehlt etwas. 
Nun, auf Mauritius, als ich anfing meine alten Geschichten zu überarbeiten, landete eben auch ‚Der Befreiungsakt‘ erneut auf meiner To-Do-Liste, ließ sich aber nicht so realisieren, wie ich es mir wünschte, weswegen ich sie erneut zur Seite packte. Bis jetzt, bis zu dem Zeitpunkt, wo ich begriff, dass meine Geschichten einfach in meinem persönlichen Umfeld spielen müssen und nicht in irgendwelchen erfundenen Städten.
Also begann ich damit, mir Gedanken zu machen, wie ich diese Geschichte so umschreiben konnte, dass sie fortan in Hamburg spielte. Wo die Strip-Club-Szenen noch recht einfach zu verlegen waren, dank der Reeperbahn, ebenso die ‚Firma‘, die ja meiner Tätigkeit bei Steenbeck nachempfunden war, stellten mich die anderen Nebenschauplätze vor ein Problem.

Auf der Suche nach passenden Lost Places 

Weder den Ort für das Finale, noch den angedeuteten Nebenschauplatz der Spielzeugfabrik konnte ich mit mir bekannten Orten besetzen. Mein erster Gedanke war, diese einfach so zu lassen, schließlich gibt es ja noch so etwas wie künstlerische Freiheit. Doch diese Idee gefiel mir nicht, also begann ich damit, nach Lost Places in der Freien und Hansestadt Hamburg zu googlen. Leider gab es kaum passende Treffer, zumindest keine, bei denen ich nur wenig würde umschreiben müssen.
Dann stieß ich auf einen Artikel in der Hamburger Morgenpost und in diesem Artikel stieß ich auf die Geisterschule von Neuhof, nur unweit entfernt von mir durchaus bekannten Ortschaften. Sie lag etwas abseits des Elbufers, wo meine Geschwister und ich so manchen Sommertag verbracht hatten. Damals müssen wir sie durchaus gesehen haben, ein paar Mal sogar an ihr vorbeigefahren sein - jedoch ohne sie wahrzunehmen. Das lag bestimmt auch daran, dass das Gebäude damals noch seinen zweiten Frühlung als Asylunterkunft genoss. Erst nachdem wir alle uns aus Wilhelmsburg verabschiedet hatten, wurde auch die Asylunterkunft aufgelöst und seit dem wartet das Haus auf seine neue Bestimmung.
Nicht die besten Vorraussetzungen für meine Geschichte, da ich sie eigentlich in unsere heutige Zeit holen wollte, aber kein Problem, welches ich nicht lösen konnte.
Doch bevor ich mich ans Umschreiben der Szenen machte, wollte ich sie mir zumindest einmal anschauen, einzig und allein um sicher zu gehen, dass sie auch tatsächlich passt. Und ja, sie passte perfekt zu der dort spielenden Szene. Bereits 1998 habe ich ihre Umgebung beinahe perfekt beschrieben.
Und so entschloss ich mich, jene Szenen tatsächlich dort spielen zu lassen.

Die Schule vom Neuhöfer Damm 95

Bereits 1650 wurde die Elbinsel Neuhof von Milch und Getreidebauern besiedelt. Damals hieß sie noch Karkhoff; zumindest für die ersten 22 Jahre, bis sie von Kaiser Otto XI in Neuhof umbenannt wurde. In den folgenden Jahrzehnten wuchs die Bevölkerung der Insel stetig an, bis sie 1813 von Napoleon und seinen Truppen vertrieben wurden. Erst mit dem Abzug Napoleons, dessen Niederlage bei Waterloo, kehrte die Bevölkerung zurück, trotzdem sollte es nie wieder so sein, wie zuvor. 
Die Bauerninsel am Rande des Hamburger Hafens wurde langsam von diesem verschluckt. Spätestens mit dem Bau des Neuhöfer Kanals im Jahr 1897 war der Wandel nicht mehr aufzuhalten. 1910 wurde Neuhof nach Wilhelmsburg eingemeindet, welches nur acht Jahre später mit Harburg zu einer Großstadt verschmolz und 1937 durch das Groß-Hamburg-Gesetz dann in die Hansestadt Hamburg eingegliedert und 1974 zum Industriegebiet erklärt wurde.
Die Schule selber wurde 1913 erbaut und blieb bis zum Ende des Wohnviertels Neuhof eine Lehranstalt, die erst 1978 mit der Umsiedlung der letzten Bewohner der Insel geschlossen wurde. Seit dem befindet sich das Gebäude im Besitz der HPA (Hamburg Port Athority), die anscheinend jedoch keine wirkliche Verwendung für sie zu haben schien, denn die nächsten zwölf Jahre blieb sie sich selbst überlassen. 
Erst 1990 wurde das Gebäude modernisiert und zu einer Asylantenunterkunft umgestaltet. Die nächsten 17 Jahre (bis 2007) beherbergte sie zahlreiche Flüchtlinge. Und in genau dieser Zeit spielt auch ‚Der Befreiungsakt‘.
Seit 2007 gab es mehrere unterschiedliche Pläne zur weiten Nutzung des denkmalgeschützten Gebäudes, die aber bislang immer an der HPA scheiterten. Seit nunmehr dreizehn Jahren ist die Geisterschule ihrem Verfall überlassen und ein Ende ist nicht abzusehen.

Aufbruch in eine ungewisse Zukunft

Nicht nur die tatsächliche Umgebung der Geisterschule macht sie zu einem perfekten Schauplatz meiner Geschichte, sondern auch ihre bewegte Vergangenheit und aussehen läßt in mir den Wunsch entstehen, sie stärker als bisher in die Geschichte mit einzubeziehen. Auch wenn es eigentlich unlogisch ist, so kam mir bereits der Gedanke, sie doppelt zu verwenden. Nicht nur ihre Zeit als Asylantenunterkunft zu verwenden, sondern ebenfalls ihren heutigen Zustand als Ort für das Finale der Geschichte.
Unlogisch daher, dass zwischen den Szenen in meiner Geschichte keine dreizehn Jahre liegen, sondern höchstens wenige Wochen. Vielleicht gelingt es mir, alles so umzuschreiben, dass es tatsächlich passt, ansonsten bleibt mir ja noch das Mittel der künstlerischen Freiheit. Welchen Weg ich nun tatsächlich bestreiten werde, weiß ich noch nicht, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Schule eine starke, zentrale Rolle in ‚Der Befreiungsakt‘ spielen wird.
Nun, im Laufe diesen Jahres werden wir es erfahren, dessen bin ich mir sicher.
Euer

Christian Bass

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